Selbstverständlich bin ich den Russen dankbar-Oskar Lafontaine

Oskar Lafontaine

Kurz vor dem 8. und 9. Mai, dem 70. Jahrestag der Befreiung Deutschlands und Europas vom Hitlerfaschismus, wir sprachen mit Oskar Lafontaine. Lafontaine, derzeit Vorsitzender der Linksfraktion im saarländischen Landtag, spricht über das notwendige Verhältnis zu Russland, Geschichtsrevisionismus und den Zwang, eine neue Friedenspolitik durchzusetzen. „Selbstverständlich bin ich den Russen dankbar für die Befreiung Deutschlands von dem Faschismus“, so Lafontaine. Dies sei eine große Leistung gewesen, die vor allem die Rote Armee vollbracht habe: „Ohne sie wäre es nicht gegangen. Dazu ziehe ich den Schluss: Wir brauchen eine gute Nachbarschaft zu Russland und wir sollten zurückkehren zu der Friedenspolitik, die mit dem Namen Willy Brandts verbunden ist.“ Das diesjährige Gedenken sieht Lafontaine überlagert von dem aktuellen geopolitischen Konflikt um die Ukraine: „Wir sind ja, so kann man das sagen, wieder im Kalten Krieg.“

Herr Lafontaine, am 8. und 9. Mai wird der Tag der Befreiung begangen. Sind Sie den Russen für die Befreiung Deutschlands dankbar? 

Oskar Lafontaine: Ja, selbstverständlich bin ich den Russen dankbar für die Befreiung Deutschlands von dem Faschismus. Das war eine große Leistung, die ja vor allem die Rote Armee vollbracht hat. Ohne sie wäre es nicht gegangen. Daraus ziehe ich den Schluss: Wir brauchen eine gute Nachbarschaft zu Russland und wir sollten zu der Friedenspolitik zurückkehren, die mit dem Namen Willy Brandts verbunden ist.

Nun tun sich deutsche und westliche Politiker in diesem Jahr besonders schwer mit dem Gedenken, obwohl es der 70. Jahrestag ist. Sie müssen auf der einen Seite gedenken, sie wollen aber nicht zur Militärparade nach Moskau. Wie überlagert ist dieser 70. Jahrestag von dem aktuellen politischen, geopolitischen Geschehen? 

Oskar Lafontaine: Natürlich ist er jetzt sehr stark überlagert, weil wir eine neue Situation haben. Wir sind ja wieder im Kalten Krieg, so kann man das sagen, und im Kalten Krieg ist ja auch kein westlicher Staatsmann nach Moskau gefahren und hat an dieser Parade teilgenommen. Und das ist das Bedauerliche: Das Fernbleiben ist mehr oder weniger ein Eingeständnis dieser politischen Fehlentwicklung. Ich bin der Meinung und ich hoffe, dass der und die eine oder andere zur Besinnung kommt – da denke ich insbesondere an Frau Merkel -, dass man erkennt, dass das so nicht weitergehen kann und dass man die Zusammenarbeit mit Russland sucht.

Nun gibt es auf deutscher Seite in diesem Jahr vor dem Hintergrund des Konfliktes in der Ukraine geradezu chauvinistische Töne. Es gibt natürlich immer die skurrilen Gestalten[1] am rechten Rand wie die CDU-Abgeordnete Erika Steinbach. Es gibt auch die öffentlich-rechtlichen Medien. 

Ich möchte dazu eine Passage aus dem Deutschlandfunk[2] zitieren: „Lasst die Russen kommen. (…) Die Russen haben es in 70 Jahren nicht geschafft, eine Autobahn von Moskau nach St. Petersburg zu bauen. Vielleicht also lernen die Nachtwölfe noch was auf ihrem Weg von Moskau nach Berlin und zurück. Vielleicht nehmen sie ein bisschen Zivilisation mit.“ Die Deutschen sehnen sich, so scheint es, 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geradezu aus ihrer Verliererrolle heraus. 

Oskar Lafontaine: Ja, das kann man so sehen. Natürlich muss man die Gesamtentwicklung dabei im Auge haben. Sie sind ja längst aus der Verliererrolle heraus. Ökonomisch gesehen fühlen sie sich jetzt wieder als die stärkste Wirtschaftsnation Europas. Das geht ja schon seit vielen, vielen Jahren so. Es wird ja auch beklagt, dass Deutschland zum europäischen Hegemon geworden ist, also zur Vormacht in Europa.

Und wenn jetzt wieder überall zu lesen ist, wie gut wir doch sind und dass die anderen alles nicht so gut können – man denke nur mal an die Hybris gegenüber Griechenland -, dann kommt es zu solchen überheblichen Tönen. Und natürlich auch gegenüber Russland und Putin. Wir haben ja jetzt über ein Jahr in einem solchen Ausmaß eine Hetze erlebt, wie ich sie vor Jahren noch nicht für möglich gehalten hätte.

Das Ganze, Herr Lafontaine, führt zu einem Geschichtsrevisionismus, gerade in Osteuropa, wo die Rolle Russlands, die Rolle der Roten Armee schlichtweg aberkannt wird. Was bedeutet das Ihrer Meinung nach gesellschaftlich, gerade mit Blick auf die osteuropäischen Gesellschaften, in denen die Geschichte jetzt umgeschrieben wird. Welche Intentionen stecken dahinter? 

Oskar Lafontaine: Die Geschichtsschreibung ist immer die Geschichtsschreibung der Herrschenden. Im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und im Zuge der Entwicklung in Osteuropa beginnen diese Staaten ihre Geschichte natürlich auch neu zu schreiben. Und da geht es zunächst einmal gegen die ehemalige, wenn man so will, Besatzungsmacht, die Sowjetunion, die mit Russland verbunden wird. Und vor diesem Hintergrund kommt es dann zu den abenteuerlichsten Entgleisungen.

Ich denke etwa an den ukrainischen Ministerpräsidenten, der sich entblödet hat, so zu tun, als hätte die Rote Armee die Ukraine mehr oder weniger überfallen, um sie in Besitz zu nehmen. So etwas werden wir wohl noch eine ganze Zeit lang erleben. Umso mehr müssen wir, die wir das Umschreiben der Geschichte erkennen, durch Aufklärung dafür sorgen, dass dieses Umschreiben immer wieder von Betrachtungen, Aufsätzen und Meinungen konterkariert wird, die auf die wirklichen Zusammenhänge aufmerksam machen. Und das heißt gerade jetzt, 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, dass die Rote Armee einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass der Faschismus besiegt wurde.

Sie haben gesagt, die Geschichte wird von den Hegemonialmächten geschrieben. Es ist im Endeffekt also das „Neue Europa“, das der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vor über zehn Jahren skizziert hat, das hier seine Wirkung entfaltet. 

Oskar Lafontaine: Ja, das muss man so sehen. Das hängt ja eben mit der Geschichte der letzten Jahrzehnte zusammen. Es war ja klar, dass sich im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion in Osteuropa die politische Landschaft total verändern würde. Und es war auch klar, dass der neue Hegemon – in diesem Fall also die USA als einzig verbliebene Weltmacht – alles tun würde, um den eigenen Einflussbereich zu erweitern. In diesem Kontext muss man das Umschreiben der Geschichte sehen.

Herr Lafontaine, inwieweit ist es problematisch, dass der Hitlerfaschismus auf Einzelphänomene wie den mörderischen Antisemitismus, den Antiziganismus oder die Homophobie beschränkt wird. Der Faschismus ist ja mehr. Der Faschismus ist auch Gewerkschaftshass, Arbeiterfeindlichkeit und Antikommunismus. 

Oskar Lafontaine: Ich habe über diese Frage auch viel nachgedacht und es gibt ja viele Theorien darüber, was Faschismus ist und wie er zustande gekommen ist. Meine Antwort ist, dass das eigentliche Kennzeichen die Verachtung der Menschenwürde ist. Und die Frage, wie es zur Verachtung der Menschenwürde kommen kann, ergibt sich aus der Alltagserfahrung. Und daher komme ich zu dem Ergebnis, das alle Wirtschaftssysteme, die zur Verachtung der Menschenwürde führen, die das Gewinnstreben verabsolutieren und zur Leiharbeit und zu Werkverträgen führen, also zu „Kostenstellen mit zwei Ohren“, um ein zynisches Wort aufzugreifen, dass diese Wirtschaftssysteme die Verachtung der Menschenwürde konstituierend in sich tragen.

Daher kommt das Brecht-Wort: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“ Daraus leite ich, wenn man so will, die Kernaufgabe jeder linken Politik ab. Linke Politik muss versuchen, darauf hinzuwirken, Wirtschaftssysteme zu entwickeln, die eine andere innere Ordnung haben. Eine Ordnung, die darauf abzielt, zunächst dem Mensch seine Würde zu geben und dann eben das Ökonomische nachgeordnet zu organisieren. Das scheint mir der Kern der ganzen Diskussion zu sein.

Ist es nicht aber auch zum Teil ein Problem der Linken, vor allem der deutschen Linken, dass sie es bis heute nicht vollständig geschafft hat, sich von den Verbrechen des Stalinismus zu distanzieren, von den Massakern, von der Verfolgung unliebsamer Kommunisten? Wäre das nicht notwendig, um ein glaubwürdiges Gedenken zu garantieren? 

Oskar Lafontaine: Das ist natürlich notwendig. Denn wenn ich von Verachtung der Menschenwürde spreche, dann gilt das global. Man kann ja nicht sagen, auf der einen Seite kritisiere ich die Verachtung der Menschenwürde, auf der anderen Seite nicht. Und damit beantworte ich auch diese Frage: Man darf an dieser Stelle nicht in irgendeiner Form in den Verdacht kommen, dieses wichtige Anliegen zu instrumentalisieren oder nur von einer Seite zu sehen. Deshalb ist eine Linke nur dann glaubwürdig, wenn sie die absolute Beachtung der Menschenwürde gegenüber jedermann und gegenüber jedem System einfordert.

Herr Lafontaine, was machen Sie an diesem 8. und 9. Mai?

Oskar Lafontaine: Ich habe am 7. Mai in Berlin an einer Gedenkveranstaltung teilgenommen. Diese Gedenkveranstaltung galt dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das war, wenn man so will, eine vorgezogene Gedenkveranstaltung, weil wir davon ausgehen mussten, dass zum Beispiel im Bundestag, wo es ja auch eine Gedenkstunde gibt, Geschichtsrevisionismus betrieben werden wird. Deshalb brauchte es eine Veranstaltung, auf der deutlich gemacht wird, dass wir diesen Geschichtsrevisionismus nicht zulassen wollen.

m-reimann.com und Weltnetz.tv

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