Auf den letzten Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU wurde deutlich, in welch angeschlagenem Zustand sich der europäische Staatenbund befindet. Die Europäische Union steht aktuell vor der größten Bewährungsprobe seit ihrer Gründung vor 60 Jahren. Der angestrebte Konvergenzprozess erweist sich zusehends als illusionär. Vor allem in- folge der Wirtschaftskrise, die im Jahr 2008 einsetzte, setzte eine Auseinanderentwick- lung der nationalen Lebensniveaus und der wirtschaftlichen Ressourcen und Entwick- lungspotenziale ein. Faktisch ist auch die Konzeption eines Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten gescheitert. Das ursprüngliche Motiv, die Sicherung des Friedens in Europa nach der Erfahrung von zwei verheerenden Weltkriegen, ist heute zur Selbstverständlichkeit ge- worden. Mit dem unkontrollierten Zustrom von Migranten ist die Frage nach der Siche- rung der Grenzen und vielmehr noch das unzureichende EU-Asylsystem zum Problem geworden. Die Reisefreiheit im Schengen-Raum, eine der größten Errungenschaften der EU, wurde demzufolge eingeschränkt.
Kontrollverluste der Nationalstaaten
Die Finanzkrise und ihre Folgen haben die Schwächen der EU-Staatengemeinschaft schonungslos aufgedeckt. Das starke Anschwellen der Migrationsströme hat die Span- nungen verstärkt. Nicht nur die hohen Flüchtlingszahlen, auch die Einführung der Arbeit- nehmerInnenfreizügigkeit haben Befürchtungen vor einer Überlastung der Sozialsys- teme, steigender Arbeitslosigkeit und Überfremdung wachsen lassen. Dazu gesellt sich eine Skepsis gegenüber Globalisierung und Freihandel. Auf diesem Nährboden konnten national-chauvinistische Kräfte stark werden, die nicht nur die EU, sondern internationale Übereinkommen generell in Frage stellen. Der Euro, die vermeintliche Krönung der europäischen Integration, steht heute im Zent- rum von Europas Krise. Die Mitverantwortung der EU an den sozio-ökonomischen Defi- ziten in den Nationalstaaten wurde durch die Einführung des Euro verstärkt. Die Einheits- währung erweiterte dank niedrigerer Zinsen und leicht zugänglicher Kredite in vielen Län- dern die Spielräume für öffentliche und private Verschuldung, die jedoch auch zu Fehl- ausgaben und Blasenbildungen führte. Zudem wurden die nationalen Wirtschaftspolitiken auch nicht nur ansatzweise in dem Maß aufeinander abgestimmt, wie es in einer Wäh- rungsunion der Fall sein sollte. Dazu kam die beliebte Masche, die Verantwortung für Fehler auf die europäische Ebene abzuschieben.
1 Dr. Axel Troost ist Senior Fellow für Wirtschafts- und Europapolitik bei der Rosa Luxemburg Stiftung und einer der VorstandssprecherInnen des Instituts Solidarische Moderne (ISM).
Der Text erscheint Anfang August in: Walter Baier/Bernhard Müller (Hrsg.), Integration – Des- integration – Nationalismus. transform! Jahrbuch 2018. VSA-Verlag 300 Seiten EUR 19.80, ISBN 978-3-89965-834-7
2 Vgl. dazu auch Klaus Busch / Axel Troost /Gesine Schwan / Frank Bsirske /Joachim Bischoff / Mechthild Schrooten / Harald Wolf, Europa geht auch solidarisch, Hamburg 2016; Frank Bsirske/Klaus Busch: Die Zukunft der EU: Integration statt Krisenverschleppung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 9/2017, S. 89-96; Joachim Bischoff, Klaus Busch, Mechthild Schrooten, Björn Radke, Axel Troost und Harald Wolf Europa: Was wird aus dem deutsch-französischen Tandem?, in: Sozialismus Heft 10/2017, S. 24-30
Die BritInnen haben sich angesichts der zutage tretenden Defizite mit einer knappen Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden. Was jahrzehntelang als spleenige Minderheitenposition immer mal wieder im Raum stand, ist Tatsache ge- worden. Großbritannien, die einstige Weltmacht, das drittgrößte Mitgliedsland und die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU, will die Europäische Union bis zum 29. März 2019 verlassen. Aber die Austritts- und Nachfolgebedingungen stellen sich für die 27 verblei- benden Mitgliedsländer und das ausscheidende britische Königsreich als kaum lösbares Problem dar. Die Löcher, die der Brexit in den EU-Haushalt reißt, sind nur eines der vielen ungelösten Probleme.
Trendwende?
Nach Jahren von Rezession und fragiler Erholung wachsen die Wirtschaften in der Euro- Zone und der EU wieder. Dies ist nicht zuletzt der flexibleren Interpretation der Haushalts- und Verschuldungsregelungen, dem Einsatz von europäischer Investitionsbank und Junckerfonds und vor allem der expansiven Geldpolitik der EZB zu verdanken. Im Juli 2012 erklärte EZB-Präsident Draghi: Innerhalb ihres Mandats sei die EZB bereit, zu tun, was immer es brauche (»whatever it takes«), um den Euro zu erhalten. Damit verbunden waren Anleihenaufkäufe und andere Instrumente der quantitativen Lockerung, die andere Zentralbanken längst erfolgreich erprobt hatten. Seither hat sich die Bilanzsumme der EZB um ein Drittel erhöht und der Einlagenzinssatz ist negativ geworden. Die unkonven- tionelle Geldpolitik hat die Finanzmärkte beruhigt, sie hat aber die wirtschaftlichen und finanziellen Strukturprobleme nicht kuriert und hat zudem schädliche Nebenwirkungen. Wenn Finanzierungskosten zu niedrig sind, führt das zu Fehlinvestitionen und schafft den Nährboden für neue Wertberichtigungen und Krisen.
Europas Politiker haben es versäumt, die strukturellen Probleme der Währungsunion an- zupacken. Die längst überfällige Restrukturierung des europäischen Bankensektors ver- läuft nur sehr schleppend. Die Staatshaushalte sind unterfinanziert, was bislang noch durch die Niedrigzinspolitik der EZB kaschiert wird. In Griechenland und Italien ist die Industrieproduktion um je rund ein Viertel eingebrochen. Und die Arbeitslosigkeit liegt insgesamt auf untragbar hohem Niveau.
Das Versprechen einer Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhält- nisse im Euro-Regime ist nicht durch Maßnahmen unterlegt. Deutschland hatte mit der Einheitswährung einen entscheidenden Zusammenhang ausgenutzt: Wettbewerbsunter- schiede wurden nun nicht mehr durch Auf- und Abwertungen der nationalen Währungen konterkariert. Die Politik der deutschen Bundesregierungen, die Exportwirtschaft und da- mit das wirtschaftliche Wachstum einseitig dadurch zu befeuern, dass man sich der kol- lektiven Nachfrage im europäischen Binnenmarkt bemächtigt, konnte in der Währungs- union richtig zum Zuge kommen. Da unterlegene Nachbarn nicht mehr die Möglichkeit der Abwertung ihrer nationalen Währung hatten, wuchs der Druck, intern durch rabiate Senkung der Lohnkosten abzuwerten. Wo dies nicht geschah, stieg die Verschuldung. Ein knappes Jahrzehnt »funktionierte« dieses »Gläubiger-Schuldner«-System scheinbar.
Auzug Axel Troost